Begleitheft zum Hörbuch „Elfenfeld“
erschienen im Kunst- und Textwerk Verlag 2013,
ISBN: 978-3-937000-98-5
© Kunst- und Textwerk Verlag 2013
© Text: Reinhard Ammer
ISBN: 978-3-937000-97-8
http://www.kutv.de
VOM PRODESSE ET DELECTARE DES SCHREIBENS MIT EINEM VOKAL
Vortrag auf der Nerd Nite Munich in der Schwabinger „Repüblik“ am 24. Februar 2010
Meine Damen und Herren,
vom römischen Dichter Horaz stammt der Ausspruch: „Aut prodesse volunt aut delectare poetae“(1). Entweder nützen wollen sie, die Poeten, oder erfreuen. Ich möchte Sie heute mit einer Dichtungsart bekannt machen, die beiden Bestrebungen der Männer des geschriebenen und gesprochenen Wortes in ganz besonderer Weise gerecht wird, nämlich mit der Fabrikation von Texten unter Ausschluss eines oder mehrerer Buchstaben bzw. Laute und insbesondere mit seiner radikalsten Form, dem Monovokalismus. Neu ist diese Form der Poesie nicht, ganz im Gegenteil:
Vom griechischen Dichter Pindar wird berichtet, er habe um 500 v. Chr. eine Ode ganz ohne den Buchstaben Sigma verfasst, um den Sängern der griechischen Welt auch mal ein zischlautloses Trällern zu ermöglichen. Der spanische Dramenschreiber Lope de Vega schrieb zu Anfang des 17. Jahrhunderts einen Schäferroman in fünf Büchern namens „Los Pastores de Belén“ (Hirten von Bethlehem), der sich in formaler Hinsicht dadurch auszeichnet, dass in jedem der fünf Teile abwechselnd auf einen der fünf Vokale (a, e, i, o, u) verzichtet wird. Schon im 5. Jahrhundert nach Christus hatte Nestor von Laranda ein ähnliches Formprinzip praktiziert und eine Neufassung der Ilias geschrieben, deren erster Teil ohne den Buchstaben „A“ auskommen musste, während dem zweiten Teil das „B“ versagt blieb, und so fort. Und im fernen Indien des 8. Jahrhunderts ersparte es der Dichter Dandin in seinem in Sanskrit geschriebenen Roman „Die Abenteuer der zehn Prinzen“ (Daśakumāracarita) einem der titelgebenden Helden, bei der Erzählung seiner erotischen Abenteuer von Labiallauten, also von den mit den Lippen gebildeten Lauten b, f, m, p, v und w, Gebrauch machen zu müssen, da seine Geliebte ihm den Mund in einer heißen Liebesnacht wundgeküsst hatte. Auch der Barockdichter Christian Weise nahm sich fürsorglich der artikulatorischen Gebresten in diesem Fall nicht eines fiktiven, sondern eines Liebhabers aus Fleisch und Blut an, indem er ihm eine Liebeserklärung ohne den Buchstaben „R“ in die Feder diktierte, weil sich bei dem Ärmsten die für diesen Roll-Laut unumgängliche Zungenfertigkeit einfach nicht einstellen wollte. Aus der neueren Zeit ist besonders der französische Sprachmeister Georges Pérec zu erwähnen, dessen bei Zweitausendeins erhältliches Opus magnum „Das Leben – Gebrauchsanweisung“ (La Vie – Mode d´émploi) vielen bekannt sein dürfte. Dieser Autor hat sowohl einen e-losen Roman namens „La Disparition“ verfasst als auch einen Kurz-Roman, der unter Auslassung aller anderen Vokale nur mit dem Vokal „E“ geschrieben ist. „Les Revenentes“ heißt er. Und schließlich sind aus der deutschen Literatur noch zwei Namen zu erwähnen. Zum einen Ernst Jandl, der einer mitunter recht abschätzig beurteilten Hunderasse ein unauslöschbares literarisches Denkmal gesetzt hat, indem er uns das monovokalische Gedicht von „Ottos Mops“ auftischte, und zum zweiten Robert Gernhardt, der parodistisch Jandls o-haltigen Faden weiterspann und seine Mit- und Nachwelt mit Annas Gans, Gudruns Luchs und Gittis Hirsch bekannt machte, während er das Poem mit dem Vokal „E“ seinem berühmten Schriftsteller-Kollegen „Enzensberger“ und einem denselben verfolgenden schröcklichen Untier namens „Exeget“ widmete.
Sie sehen, über eine Spanne von zweieinhalb Jahrtausenden hinweg haben Dichter der unterschiedlichsten Provenienz Literatur geschaffen, deren besonderes Kennzeichen das Fehlen eines oder mehrerer Buchstaben ist. Mal ist es ein Vokal, mal ist es ein Konsonant, mal ist es gleich ein ganzer Verbund von Lettern, dem vorübergehend für ein literarisches Werk – vom Roman über das Epos bis hin zum lyrischen Erguss – der Laufpass gegeben wird. In der Poetik wird dieses Verfahren Leipogrammm oder Lipogramm genannt. „Leipo“ (λείπω) ist altgriechisch und heißt „auslassen“, „gramma“ (γράμμǎ), ebenfalls altgriechisch, bedeutet „Buchstabe“. Es liegt auf der Hand: Je mehr Buchstaben beim Schreiben unter den Tisch fallen und je häufiger sie in der Sprache vorkommen, umso schwieriger ist es, einen Text zu schreiben. Ein Text ohne „W“ ist leicht zu bewerkstelligen, ein Text ohne „E“ hingegen – das ist der bei weitem häufigste Vokal in der deutschen Sprache – ist nur unter großen Mühen zu erstellen. Turmhoch aber bauen sich die Hindernisse auf, wenn man die radikalste Form des Lipogramms zugrunde legt, nämlich das Schreiben mit einem einzigen Vokal. Auf diese Art der Dichtkunst trifft voll und ganz zu, was einst ein mittelalterlicher Poet über das Verfassen von Palindromen schrieb, also von Texten, die sich sowohl vor- als auch rückwärts lesen lassen:
… (da) wurden die Buchstaben in meinen Augen zu großen Bergen, heftiges Zittern ergriff mich, und ich konnte mich nicht fassen; meine Haare standen zu Berge, und es war mir, als wäre ich nicht auf dieser Welt(2).
Meine Damen und Herren, besser kann man es nicht beschreiben! Alles das habe ich selbst erlebt! Das Schreiben mit einem Vokal ist Sudoku für Literaturbegeisterte, Schachspielen für Sprachfexe, und Puzzeln und Scrabbeln in einem für phantasiebegabte Wortmetze. Es grenzt an Magie! Oft geht das sprachakrobatische Spiel freilich nicht auf, wenn sich aber alles wundersam ineinanderfügt, dann hält man schon mal ein literarisches Kleinod in der zitternden Hand.
Wie das aussehen kann, möchte ich Ihnen nun an einem konkreten Beispiel aus meinem E-Werk „Elfenfeld“ erläutern. Dies ist eine Heldenlegende, die im September 1616 in dem niederösterreichischen Städtchen Melk spielt. Der nächtliche Schauplatz des 9. Kapitels ist die kleine Wohnung des jugendlichen Erzschelms Wenzel Schenk im obersten Stock eines Hauses, von dem aus man einen guten Blick auf den Ort hat. Ein Gewitter kommt auf und bricht mit verheerender Wucht über das Städtchen herein. Nach ein zwei Stunden zieht es wieder ab.
Ich habe den ersten und letzten Teil des Kapitels – die Ruhe vor und nach dem Sturm – in gewöhnliche, von allen Vokalen, Umlauten und Diphthongen Gebrauch machende Prosa übersetzt, um von da aus Stück für Stück den E-Text zu rekonstruieren, so dass Sie die Schwierigkeiten, aber auch den Reiz des monovokalischen Dichtens nachvollziehen können:
VOR DEM STURM – in Normaldeutsch
In einem kleinen Sträßchen am Ortsrand von Melk. Es ist kurz vor zehn Uhr. Kein Mensch geht auf dem düsteren, schlehengesäumten Weg. In der Ferne bellt ein Hund. Pechrabenschwarzer Himmel. Sterne sind nicht zu sehen, selbst der Mond versteckt sich. Es weht ein leichter Wind. Die Fenster von Wenzel Schenks Dachwohnung leuchten gemütlich in die Dunkelheit.
VOR DEM STURM – als E-Werk
Mehlbeerenweg 6. Es geht gegen zehn. Jede Menge Schlehen stehen bedenkenschwer neben dem menschenleeren, den Melker Betberg bekehrenden Getrepp, welches selbst der elendesten Mehlbeere entbehrt. Fern bellt es. Fetter Teer verklebt jede Ecke des Weltenzeltes. Er versteckt jedes Sternchen, verdeckt selbst den Gelben. Leger weht es her. Wenzel Schenks Fernsehnest versendet nette, septembernde Helle.
NACH DEM STURM – in Normaldeutsch
Um elf Uhr hört es auf zu regnen und der Wind schläft ein. Nebelschwaden steigen auf. Schmutzige Fluten wälzen sich durch den Ort und streben in die Ferne. Der Himmel klart auf.
NACH DEM STURM – als E-Werk
Gegen elf endet der Regen. Der West, dessentwegen es wetterte, verweht. Der Erde entschweben den Selbstwert jeder segelnden Feder brechende Nebelgewebe. Melks zerregnetes Becken sendet Lethe extreme Schwemmen gewesener, vermengter Regenkerle nebst jeder Menge Dreck. Schnell werden jene Gesellen vergessen werden(3).
Ich denke, Sie gehen mit mir konform: Der Formzwang, dem man sich freiwillig unterworfen hat, und die selbstgewählte Reduktion des sprachlichen Materials bringen eine ganz ungeahnte Fülle an Bildern und natürlich auch Klängen hervor. Es entstehen Texte, wie ein Rezensent meines E-Werkes schrieb, „mit einem rätselhaften poetischen Mehrwert“(4). Die eigene Sprache erscheint in einem neuen, geradezu fremden, exotischen Gewand.
Um dieses Ergebnis zu erzielen, müssen natürlich alle, ausnahmslos alle Register der Dichtkunst gezogen werden, wobei in diesem Falle der Begriff “Dichtung“ durchaus wörtlich zu nehmen ist. 1000 Lücken syntaktischer und lexikalischer Art sind zu stopfen, 1000 erzähltechnische Klippen sind zu umschiffen. Man befindet sich in einem Labyrinth, das man nur dann verlassen kann, wenn man es selbst mit größtmöglicher Raffinesse ausgestaltet hat. Man arbeitet mit Wort-Substitutionen, grammatischen Umformungen, Ausschweifungen, Neologismen und seltenem, manchmal archaischem Vokabular. Man durchkämmt alle Arten von Wörterbüchern und wälzt Grammatiken auf der Suche nach nützlichen Strukturen. Man überlegt, welche Mittel die Asservatenkammern der Sprache dem Autor zur Verfügung stellen, um Kausalität, Temporalität, Adversativität, Konzessivität und Irrealität auszudrücken. Man sucht und sucht und irrt und flucht und findet dann doch immer wieder ungeahnte Schlupflöcher, durch die man wie Lewis Carrolls Alice nach ihrem Fall durchs „rabbit-hole“ in ein Wunderland der Phantasie gelangt. Denn das Nadelöhr, durch das man, wenn man es mit lediglich einem Vokal treibt, hindurchdichten muss, ist erfreulicherweise nicht nur eine zwanghafte Veranstaltung, sondern auch eine große Chance. Das vorab angesammelte Vokabular birgt ja in sich schon die Keime für die künftige Erzählung. Man muss sich nur treiben und anregen lassen. Und so habe auch ich die dramatis personae für meine Heldenlegende „Elfenfeld“ – elf erzfesche Elfen; elf geldversessene, jede Menge Schwerverbrechen begehende Pferdemetzger; der ehrenwerte, gegen den verderbten Rest der Welt fechtende Erzschelm Wenzel, selbstredend der Beste der Besten – und den Ort der Handlung – der Flecken Melk nebst dem elf kregle Quellen beherbergenden Elfenfeld, welches der Elfen bzw. Pferdemetzger letztes Gefecht erlebt – vertrauensvoll dem aufgefundenen Wortschatz entnommen. Und ich darf Ihnen versichern – ich bin nicht enttäuscht worden!
Nachdem nun viel vom delectare des Schreibens mit einem Vokal die Rede war, möchte ich meinen Vortrag schließen mit einem Vorschlag, der eher dem von Horaz erwähnten prodesse verpflichtet ist:
Es dauert ja nicht mehr lange, dann werden wir wieder in alle Welt schweifen und den Lieben zu Hause Postkarten schreiben. Wie wir nur zu gut wissen, sind Postkarten in aller Regel textuell noch reduzierter als Lipogramme. Der klassische Text lautet ungefähr so:
Hallo, ihr Lieben,
uns geht´s gut! Das Wetter ist prima, die Sonne scheint den ganzen Tag, es regnet fast nie. Das Essen in den Restaurants ist spitze. Wir gehen jeden Tag zum Strand. Besonders den Kindern gefällt es im Wasser. Bald ist der Urlaub zu Ende. Schade, dass ihr nicht hier seid!
Viele Grüße
Man mache aus diesem Text ein sprachhülsenzertrümmerndes Lipogramm! Etwa so könnte es gehen:
Werte Eltern,
es steht felsenfest fest: Wenn es fernen Gegenden entgegengeht, geht es den Kleenen – nebst den Eltern selbstredend – blendend! Bene, bene, bene! Seht her: Es herrscht perfektes Wetter, der Brennstern versendet belebende Helle, es regnet extrem selten. Selbst wenn es regnet, der Regen vergeht schneller denn jedes Wehwehchen der werten Qvengelherzchen. Betreffs des Essens der Gegend: Es schmeckt exzellent! Selbst letzte Reste werden – ene mene heckmeck – gernstens verzehrt! Wenn es gegen Elf geht, erlebt jeder des grenzenleeren Meeres rege her- nebst wegschwellende Wellen. Wegen der Kleenen, welche den Wellen regelrecht entgegenbetteln, geht es erst gegen Sechse dem Fressen, eh, dem Essen entgegen. Mensch, jetzt endet jene Fettlebe! Wenn es geht, Werteste, jettet schnell her!
Gesegnetes Leben(5)!
Texte wie dieser nützen allen! Dem Schreiber, weil er erfinderisch sein darf, und dem Leser, weil er nicht gelangweilt wird! Probieren Sie es selbst! Sie werden sehen: Es ist ein Riesenspaß und ein großartiges Spiel! Ist es nicht so, wie Friedrich Schiller sagte? Der Mensch spiele nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch sei, und er sei nur da ganz Mensch, wo er spiele? Natürlich ist es so!
Doch um eine kleine Warnung komme ich nicht herum, meine Damen und Herren: Sie brauchen Zeit, sehr sehr viel Zeit. Texte dieser Art lassen sich nicht zwischen Tür und Angel schreiben. Ich weiß, wovon ich rede! Falls Sie es aber dennoch wagen sollten, lipogrammatisch und monovokalisch zu dichten, wünsche ich Ihnen viel viel Vergnügen! Ein Zittern soll Sie ergreifen, Ihre Haare sollen zu Berge stehen, und es soll sein, als wären Sie nicht auf dieser Welt! Vive la Poésie! Vive la Repüblik!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!
Anmerkungen
1 Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica, Reclam Heft 9421, Stuttgart 2002, S. 24
2 Zit. nach Herbert Pfeiffer: Oh Cello voll Echo (Palindrom-Gedichte), Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 1992, S. 108f.
3 Die monovokalischen Texte sind Zitate aus: Reinhard Ammer, Elfenfeld, Kunst- und Textwerk Verlag München 2007
4 Andreas Heckmann: Des Brennsterns sengende Wellen, in: Am Erker, Zeitschrift für Literatur, 31. Jahrgang 2008, Nr. 55, S. 159f.
5 Der ausgearbeitete Text („E“-Mail aus Hellas) ist abgedruckt in: Am Erker, Zeitschrift für Literatur, 33. Jahrgang 2010, Nr. 59,
S. 103f.
Literaturliste
Gerhard Grümmer: Spielformen der Poesie, Leipzig 1988
Andreas Heckmann: Des Brennsterns sengende Wellen, in: Am Erker, Zeitschrift für Literatur, 31. Jahrgang 2008, Nr. 55, S. 159f.
Eugen Helmlé: Postscriptum, in: Georges Pérec, Anton Voyls Fortgang, übers. v. Eugen Helmlé, 3. Aufl., Frankfurt 1998, S 339-359
Horaz: Ars Poetica, Reclam Heft 9421, Stuttgart 2002, S. 24
Bernd Kuhne / Heiner Boehncke: Anstiftung zur Poesie. Theorie und Praxis von Oulipo, Bremen 1993
Herbert Pfeiffer: Oh Cello voll Echo (Palindrom-Gedichte), Frankfurt am Main und Leipzig 1992
Reinhard Ammer: Elfenfeld, Kunst- und Textwerk Verlag München 2007
Reinhard Ammer: „E“-Mail aus Hellas, in: Am Erker, Zeitschrift für Literatur, 33. Jahrgang 2010, Nr. 59, S. 103f.

Zum Autor
Reinhard Ammer, geboren in Passau, lebt in München. Er sympathisiert mit der literarischen Gruppierung „Oulipo“ (Ouvroir de littérature potentielle – Werkstatt für potentielle Literatur). Zuletzt schrieb er in bairischer Sprache den 12-teiligen Zyklus „Herzzreissn – Schwarze Münchner Gschichtn“ sowie das Oktoberfest-Singspiel „Alex? Wer zefix is Alex?“.